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Vom Rand zur Mitte? Die Emanzipation der Juden in Europa

Im späten 18. Jahrhundert begann  in vielen europäischen Staaten eine öffentliche Debatte, welche sich mit der politischen Lage und den Lebensumständen der jüdischen Minderheit auseinandersetzte. Juden und Nichtjuden, Gelehrte, Philosophen und Kaufleute diskutierten Wege in die sogenannte Emanzipation. Der Begriff kommt vom dem lateinischen ex manus capere, was im weitesten Sinne bedeutet, eigenständig zu werden (von der Hand gelassen werden). Historisch gesehen bezog sich der Terminus ex manus capere ursprünglich darauf, dass der Sohn mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter aus väterlicher Gewalt entlassen wurde, oder einem Sklaven die Freiheit von seinem ‘Herrn’ gegeben wurde. Im 19. Jahrhundert hingegen ging es bei den Diskussionen um Emanzipation um die rechtliche, soziale und wirtschaftliche Integration der jüdischen Minderheit in die Gesellschaften der Länder, in denen sie lebten.

Historische Entwicklung der jüdischen Emanzipation

Im Kontext deutsch-jüdischer Geschichte entwickelte sich die praktische Umsetzung einer Politik, welche auf eine Gleichstellung der jüdischen Minderheit im sozialen, juristischen und wirtschaftlichen Bereich abzielte, keineswegs linear. Die phasenweise Erteilung von Rechten unterschied sich sowohl in ihrer jeweiligen Reichweite, als auch geographisch. Letzteres war bedingt durch die Tatsache, dass es anstelle des Deutschlands, das wir heute kennen, viele deutsche Territorialstaaten gab, welche unter der Kontrolle von individuellen Herrschern standen. Und diese Männer hatten sehr unterschiedliche Meinungen zur Stellung der Juden in ihrem jeweiligen Staat. Die Entwicklung der Gleichberechtigung der Juden in den deutschsprachigen Staaten im politischen und sozialen Sinne war somit geprägt von einer Vielfalt von Ansätzen, welche nicht immer besonders stabil waren. Mit der Gründung des ersten deutschen Nationalstaates, dem sogenannten Deutschen Reich, im Jahr 1871 wurden Juden die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten erteilt wie ihren nichtjüdischen Mitbürgern. Das heißt konkret, dass jüdische Männer genauso wie Staatsbürger anderer Konfessionen (die Mehrheit war christlichen Glaubens) das Recht zu wählen bekamen und nun auch den Pflichten eines Staatsbürgers nachkommen mussten (z.B. Wehrdienst). Die jüdische Minderheit war damit rechtlich gesehen gleichgestellt mit allen Staatsbürgern im Wilhelminischen Deutschland. Die soziale Realität hinkte dieser Gleichberechtigung jedoch in vielen Bereichen hinterher.