Der Verband der Deutschen Juden, gegründet im April 1904, diente als Dachorganisation für jüdische Gruppen in Deutschland. Als seine Hauptaufgabe sah der Verband die politische Interessenvertretung aller deutschen Juden, unabhängig von ihrer religiösen und gesellschaftlichen Ausrichtung, gegenüber dem Staat und seinen Behörden an. Ziel war dabei die Anerkennung und rechtliche Gleichstellung jüdischer Menschen in Deutschland sowie die Abwehr antisemitischer Angriffe. Während des Ersten Weltkriegs organisierte der Verband die jüdische Militärseelsorge.
In ihrer Zeit beim Verband der deutschen Juden lernte Johanna Nathan nicht nur Leo Baeck kennen, der für ihre berufliche Laufbahn wichtig werden sollte, sondern auch Paula Glück. Glück war 1883 geboren worden und war wie Nathan im Waisenhaus aufgewachsen. Die Frauen wurden Freundinnen. An Feiertagen gingen sie zusammen zum Gottesdienst und ab 1913 wohnten sie zusammen.
Nachdem der Verband der deutschen Juden 1922 aufgelöst wurde, wechselte Johanna Nathan zur Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums. Zuletzt arbeitete sie als Sachbearbeiterin für die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Eine ihrer Aufgaben war es, die Rückgabe von ausgeliehenen Büchern zu quittieren. Johanna Nathan und Paula Glück wurden am 12. März 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Die Rettung der “Germania Judaica”
Obwohl kein Bild von Johanna Nathan überliefert ist, ist ihr mutiger Einsatz für die Bewahrung von Schriften zur jüdischen Geschichte wohldokumentiert – eine Tat von enormer Wichtigkeit angesichts der systematischen Aneignung jüdischer Geschichtsschreibung durch das Nazi-Regime zur gleichen Zeit.
Eines der wichtigsten Grundlagenwerke über deutsch-jüdische Geschichte ist die sogenannte „Germania Judaica“. Ein erster Band erschien in der Zeit zwischen den Weltkriegen; ein weiterer Band war in Planung. Doch dann erfolgte das Novemberpogrom, bei dem das Büro der Herausgeber verwüstet wurde. Alle Notizen und Artikel für das Buch wurden zerstört oder verschleppt, und es schien, als wären diese umfangreichen Vorarbeiten unwiederbringlich verloren. Zur großen Überraschung aller stellte sich jedoch Jahre später heraus, dass ein erheblicher Teil der Artikel durch Johanna Nathan gerettet worden war. Zvi Avneri beschreibt 1958, wie Johanna Nathan diese wertvollen Notizen gerettet hat:
„Bis November 1938 waren gegen 400 Artikel eingegangen; dann wurde die Arbeit durch die Pogrome unterbrochen, nach einiger Zeit wieder aufgenommen und kam allmählich durch die Auswanderung der Redakteure, der meisten Mitarbeiter und des Redaktionssekretärs zum Stillstand. Frl. Ottenheimer endete ihr Leben in einem Konzentrationslager. Kurz vor Ausbruch des 2. Weltkrieges wurde das Büro der Gesellschaft von der Gestapo geschlossen und alles dort befindliche Material beschlagnahmt, darunter auch die von Aron Freimann und Adolf Kober redigierten Artikel der Germania Judaica. Trotz aller Bemühungen ist es bis heute nicht möglich gewesen, sie wieder aufzufinden. Dafür tauchten vor drei Jahren plötzlich die meisten Artikel (schätzungsweise etwa 80 Prozent) in unkorrigierten Exemplaren auf, so wie sie von den Verfassern eingesandt oder im Büro der Gesellschaft mit der Maschine abgeschrieben worden waren. Es ist das Verdienst von Frl. Johanna Nathan, der langjährigen Sekretärin der Gesellschaft, dass dieses Material gerettet wurde; andernfalls wäre die Vollendung der Germania Judaica heute unmöglich. Bevor Eugen Mittwoch, der letzte Vorsitzende der Gesellschaft, Deutschland verließ, hatte Frl. Nathan den glücklichen Gedanken, die im Büro der Gesellschaft befindlichen Artikel in seine Wohnung zu bringen, und so gelangten sie 1939 mit seiner Bibliothek nach London. Nach Mittwochs Tod zeigte seine Witwe die Artikel Dr. Leo Baeck, der als stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft lange Jahre großes Interesse für die Germania Judaica gezeigt hatte. Er erkannte sofort ihren Wert, und mit seinem Einverständnis wurde das gesamte Material 1954 in den Jewish Historical General Archives in Jerusalem deponiert. Das Leo Baeck Institute übernahm nunmehr die Vollendung des Werkes und beauftragte den Verfasser dieser Zeilen mit den Vorarbeiten. Das Institut erklärte damit gewissermaßen, dass es sich als den Erben der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums betrachtet und die damit verbundene Verpflichtung übernimmt, deren letztes Werk zum Abschluss zu bringen.“ (Quelle: Bulletin des Leo Baeck Instituts Jerusalem (1958) Heft 2/3, Seite 115)
Durch das beherzte Eingreifen von Johanna Nathan konnte das lange geplante Buch schließlich doch noch veröffentlicht werden, wenn auch erst 30 Jahre später.
„Die jüdische Arbeit dieser Zeit war eine eigene Arbeit. Man könnte sie eine legale Untergrundarbeit nennen, immer im Legalen, aber in der Verborgenheit. Solche Arbeit kann nur geleistet werden, wenn Menschen da sind, auf die man sich unbedingt verlassen kann, verlassen auf ihre Treue und Loyalität und Entschlusskraft. Das waren vor allem die Sekretärinnen, wie das technische Wort sie nennt. Wenn hier und in Deutschland Erinnerungen wachzurufen sind, sollen zwei Namen genannt werden können, jüdische Schicksale in Deutschland: Paula Glück und Johanna Nathan, zwei Waisenmädchen, eine aus Pommern, eine aus Posen, in einem Berliner Waisenhaus zusammen erzogen. Welche Größe zum Wohle der jüdischen Arbeit in diesen furchtbaren Jahren haben diese zwei schwachen Frauen auf ihren Schultern getragen. Man sollte auch sie nie vergessen.”