In ihrer Kindheit war der Zugang zu Bildung für Mädchen stark begrenzt. Zudem war Wilde schwerhörig, was weitere berufliche Wege, wie den Lehrberuf oder Arbeit in einem Telegraphenamt, unerreichbar machte. Trotz dieser Hürden fand sie ihren Weg in die Welt der Bibliotheken, damals ein neues Berufsfeld für Frauen in Deutschland. Ihre erste Anstellung fand sie in der Privatbibliothek von Salomon Neumann, einem der Gründer der Hochschule, der unter anderem für seine derbe Umgangssprache bekannt war.
Um 1910 begann Wilde ihre Arbeit in der Bibliothek der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, wo sie eine entscheidende Rolle spielte. Sie war für das umfangreiche Projekt der Neukatalogisierung der Bibliotheksbestände nach den Preußischen Instruktionen verantwortlich, eine Aufgabe, die 15 Jahre in Anspruch nahm. 1926 wurde sie Leiterin der Bibliothek und damit wahrscheinlich die erste Frau, die in Deutschland eine wissenschaftliche Bibliothek leitete. Unter ihrer Führung erweiterte die Bibliothek ihre Öffnungszeiten, erhöhte ihren Personalbestand und wuchs trotz begrenzter Budgets weiter.
Wilde war bekannt für ihre warmherzige und mütterliche Art. Sie unterstützte Studierende, insbesondere jene aus Osteuropa, indem sie ihnen nicht nur akademische, sondern auch praktische Hilfe bot, wie die Modernisierung ihrer Kleidung oder das Flicken zerrissener Hemden. Hans-Erich Fabian, einer ihrer ehemaligen Kollegen, sollte später über sie sagen: “Einer Generation jüdischer Gelehrter, Rabbiner und Lehrer bedeutete die Person Jenny Wildes mehr als die Hüterin der Bücherschätze der Hochschule, bedeutet sie Beraterin und Helferin.”
Widerstand in der Bibliothek
In der Zeit des Nationalsozialismus zeigte Wilde ihr außergewöhnliches Improvisationstalent. Trotz des Verbots für jüdische Bibliotheken, Bücher von „arischen“ Autoren zu besitzen, und der zunehmend schwierigen Beschaffung neuer Bücher, hielt sie zusammen mit ihrer Assistentin Adele Sperling den Betrieb aufrecht, und ermöglichte es jüdischen Lesenden auf diese Weise, auch weiterhin auf Bücher zugreifen zu können.
1942, als die Nazis die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums schlossen und deren Bücherbestand beschlagnahmen wollten, waren die wertvollsten Werke bereits durch die Initiative von Jenny Wilde und ihre Kollegen ins Ausland geschmuggelt worden. Diese Bücher wurden Alexander Guttmann anvertraut, dem Talmud-Professor der Hochschule und ungarischem Staatsbürger, der 1940 aus Deutschland flüchten konnte. Guttmann nahm diese Bücher trotz der großen Gefahr, die das für ihn bedeutete, mit sich und entzog sie so erfolgreich dem Zugriff der Nazis.
1943 wurde Jenny Wilde nach Theresienstadt deportiert. Dort wurde sie dem sogenannten „Talmudkommando“ zugewiesen. Diese Einheit, bestehend aus internierten jüdischen Gelehrten und Experten, wurde von den Nazis gezwungen, beschlagnahmte jüdische Bücher und Schriftstücke zu katalogisieren, um sie für die “NS-Judenforschung” nutzbar zu machen. In dieser Umgebung arbeitete Wilde unter extremen Bedingungen und war konfrontiert mit dem zynischen Missbrauch ihres Fachwissens und ihrer Liebe zu Büchern.
Jenny Wilde überlebte. Nach der Befreiung im Mai 1945 kehrte sie nach Berlin zurück. In Berlin angekommen, musste sie feststellen, dass sie vollkommen mittellos war. Ihr Haus war zerstört, ihr Eigentum war verstaatlicht worden. Ihren Arbeitsplatz, die Hochschule, gab es nicht mehr. Zuletzt lebte sie in Berlin in einem Heim für alte Menschen, die aus den Lagern befreit worden waren. Ihr Wunsch war es auszuwandern. Sie erhielt Einladungen aus aller Welt, nämlich aus all den Orten, wohin sich ihre Freunde hatten retten können. Gerne hätte sie die Einladungen angenommen, nichts hielt sie mehr in Berlin. Doch sie wollte erst noch ihre Angelegenheiten regeln, wie sie es nannte, und sicherstellen, dass sie wenigstens eine kleine Rente bekam, um ihren Freunden nicht zur Last zu fallen. Dazu kam es nicht mehr. Jenny Wilde starb 1949 in Berlin, bevor sie diese Pläne umsetzen konnte.
“Sie können sich keinen Begriff machen, wie Berlin zerstört ist. Hochschule ein Trümmerhaufen, jüdisches Leben gibt es nicht … Die Gemeindebibliothek ist nicht mehr, man hat hier keine Hoffnung einen jüdischen Aufbau zu erwarten.”